Verändern Augmented und Virtual Reality die Arbeit?

Abzutauchen in virtuelle Welten – dieser Traum ist alt. Mit der heutigen Technik könnte die virtuelle Realität nun Wirklichkeit werden. Ändert das die Büroarbeit? Sebastian Klöß ist dieser Frage in einem Streifzug durch Entstehung, Chancen und Probleme von Augmented und Virtual Reality nachgegangen.

  • Kollaboration mit Microsofts HoloLens, die auch ohne Computer oder Smartphone funktioniert.
    Kollaboration mit Microsofts HoloLens, die auch ohne Computer oder Smartphone funktioniert.

Das Motorrad vibriert, Wind zerzaust das Haar, Gerüche und Geräusche der Großstadt dringen ans Ohr, während man durch New York fährt. Ein entspannter Tag, ein perfektes Erlebnis – und doch nur Fake. Eine Illusion, die der Philosoph und Kameramann Morton Heilig schon 1962 mit seinem Sensorama erzeugte. Wer in sie eintauchen wollte, setzte sich in einer Kabine auf einen beweglichen Stuhl. Vor ihm lief ein dreidimensionaler Film ab, Luftbewegungen und auch Gerüche wurden erzeugt. Damals floppte Heiligs Erfindung, heute gilt sie als Beginn der Virtual Reality.

Erweiterte Realität

Die 1960er waren überhaupt ein Jahrzehnt der virtuellen Realität. 1965 veröffentlichte der Elektrotechniker Ivan Sutherland seinen Aufsatz „The Ultimate Display“, das er sich als Raum vorstellte, in dem ein Computer die Existenz aller Dinge bestimmte und sie lebensecht erzeugte. Sutherland setzte sich selbst daran, die erste Hardware dafür zu konstruieren. Heraus kam 1968 ein Gerät, das die Umrisse geometrischer Figuren ins Sichtfeld des Nutzers projizieren konnte. Es gilt als das erste Head-Mounted Display (HMD) – wobei die Bezeichnung „Head-Mounted“ noch nicht ganz passte. Zwar war das Gerät mit dem Kopf des Nutzers verbunden und folgte seinen Bewegungen. Jedoch war es so schwer, dass es an der Decke befestigt werden musste. Das verlieh ihm den Spitznamen Damoklesschwert.

Genaugenommen erzeugte Sutherlands Damoklesschwert keine Virtual Reality (VR), sondern das, was mit den Begriffen des kanadischen Wissenschaftlers Paul Milgram als erweiterte Realität (auf Englisch Augmented Reality, kurz AR) bezeichnet wird. Bei ihr wird die Realität im Blickfeld des Nutzers um virtuelle Elemente ergänzt. Frühe Anwendungsgebiete hierfür waren ab den 1970ern die Head-up-Displays in Kampfjets, später auch in Zivilflugzeugen und Autos.

Passende Technik

Über virtuelle und erweiterte Realität nachgedacht und an ihrer Technik getüftelt wird also bereits seit rund einem halben Jahrhundert. Derzeit erlebt sie allerdings einen Aufschwung – vielleicht sogar ihren Durchbruch. Das liegt vor allem daran, dass die Hardware inzwischen leistungsfähig genug geworden ist: schnelle Prozessoren, performante Grafikkarten und alltagstaugliche Ausgabegeräte, die nicht mehr an der Decke hängen müssen. Schon in den 1990ern kamen im Gamingbereich erste Geräte auf den Markt, die heutigen VR-Brillen ähneln, deren Auflösung und begrenztes Sichtfeld jedoch nur eingeschränkt den Eindruck einer virtuellen Realität entstehen ließen. Das gelang erst der 2012 vorgestellten Oculus Rift, deren Hersteller Oculus VR zwei Jahre später von Facebook gekauft wurde.

Zur selben Zeit widmete sich ein weiteres Schwergewicht der Digitalbranche den Datenbrillen: Google. 2012 erstmals vorgestellt und ab 2014 zu bestellen, sorgte Google Glass für reichlich Gesprächsstoff. Denn zusätzlich zum Display, das im peripheren Sichtbereich des Nutzers auf einem Brillenrahmen montiert war, sowie zu Beschleunigungssensoren und Lautsprechern war auch eine Kamera integriert. Und mit der ließ sich die Umgebung heimlich filmen. Google sah sich deshalb sogar gezwungen, unter der Überschrift „Don’t be a Glasshole“ einen Verhaltenskodex für Glass-Besitzer herauszugeben. Merke: Erst fragen, dann filmen. Geholfen hat das nur bedingt. Selbst im technikbegeisterten Silicon Valley gab es Restaurants, die wegen der Kamera das Tragen von Google Glass verboten haben. Anfang 2015 stellte Google den Verkauf der Brille ein. Erst seit letztem Sommer wird sie wieder angeboten. Jetzt zielt Google mit ihr auf Businessanwendungen – in denen vielleicht auch weniger stört, dass man mit dem Gestell auf der Nase wie ein Cyborg aussieht.

Neben Facebook und Google hat letzten Herbst Microsoft das Gebiet der Augmented und Virtual Reality betreten, nennt es selbst jedoch Mixed Reality. Seit dem Fall Creators Update unterstützt Windows 10 standardmäßig Datenbrillen. Per Plug & Play können diese an einen Windows-Rechner angeschlossen werden, sofern der genügend Power besitzt. Zahlreiche Hardwarehersteller – von Acer über Dell, HP, Lenovo bis Samsung – bieten kompatible HMD-Headsets an. Die Zukunft von VR und AR scheint damit groß zu werden. Das Marktforschungsinstitut Research and Markets prognostiziert gar ein Wachstum des AR- und VR-Markts von jährlich sagenhaften 73,2 Prozent auf knapp 200 Milliarden US-Dollar im Jahr 2025. Doch für was sollen all diese Produkte eigentlich eingesetzt werden?

Wofür Virtual Reality?

Haupteinsatzbereich ist derzeit der Unterhaltungssektor: Gaming, Erotik, Sport. Teile der Olympischen Winterspiele in Pyeongchang konnten beispielsweise so erlebt werden. Auch der Nervenkitzel in Achterbahnen wird mit VR-Brillen gesteigert. Das alles sind Anwendungsfelder, bei denen die eigentliche Realität ausgeblendet und der Nutzer komplett in eine virtuelle Umgebung versetzt werden soll. Möglichst tief, möglichst echt wirkend.

Derzeit weniger stark verbreitet ist die virtuelle oder erweiterte Realität im Geschäftsleben. Erste Ansätze gibt es bei einigen Reisebüros, in denen der potenzielle Urlaubsort schon einmal virtuell begutachtet werden kann. Darüber hinaus kommen VR und AR überall dort zum Einsatz, wo geplant und konstruiert wird: Architektur, Innenraumgestaltung, Autodesign. Die Augmented Reality verspricht in der Medizin sowie bei der Wartung und Reparatur von Geräten einen großen Nutzen. Beispielsweise können Ärzte während einer OP MRT- oder CT-Aufnahmen eingeblendet bekommen. Und bei Reparaturen ließen sich Schritt-für-Schritt-Anleitungen anzeigen und einzelne Geräteteile grafisch hervorheben.

Neue Realitäten im Büro

Künftig könnte die AR- und VR-Technik auch ins Büro einziehen. Erste realisierte Projekte gibt es bereits, etwa bei der Bank Citigroup. Dort arbeiten Wertpapierhändler an der sogenannten Holographic Workstation. An diesem Schreibtisch steht links und rechts je ein großer Monitor im Hochformat. Die Fläche dazwischen ist frei. Setzt der Wertpapierhändler die AR-Brille HoloLens von Microsoft auf, werden auf ihr virtuelle Inhalte in der realen Welt angezeigt. Mit ihnen kann der Händler über Sprachbefehle und Gesten interagieren. Beispielsweise kann er Daten auswählen, verschieben und sie an Kollegen weiterleiten.

Die Holographic Workstation gibt einen ersten Eindruck davon, wie sich das Büro durch AR und VR verändern könnte. Einen noch radikaleren Schritt hat der Exzellenzcluster CITEC der Uni Bielefeld gemeinsam mit dem Softwarehersteller Ceyoniq unternommen: Sie haben das Büro komplett virtualisiert. Der Clou an der Lösung ist, dass sich mit dem virtuellen Büro komplexe Datenbanken im wahrsten Sinne des Wortes besser begreifbar machen lassen. Der Büroarbeiter kann einfach ein virtuelles Dokument aus einem virtuellen Regal nehmen und auf seinen virtuellen Schreibtisch legen. Sobald es dort liegt, öffnet es sich. Später kann er es wieder zurück an den gewünschten Platz im virtuellen Regal (und damit der Datenbank) legen.

Wozu noch ein Büro?

Ist die Büroarbeit derart virtualisiert, wird eines überflüssig: das Büro. Mit der VR-Brille vor den Augen, kann der Wissensarbeiter an jedem beliebigen Ort sitzen, stehen oder liegen und sich virtuell in jede erträumte Umgebung beamen: schickes Büro oder Wasserfall, Wiese oder Café. Eingabegeräte wie Tastatur oder Maus wären ebenfalls obsolet. Die Interaktion mit dem Computer würde über Nicken, Augenbewegungen, Gesten oder Sprachbefehle erfolgen. Klingt hervorragend. Zumindest, bis der bebrillte Büroarbeiter schmerzhaft in die reale Welt zurückkatapultiert wird, wenn er über ein Kabel stolpert, an einen Tisch stößt oder gegen die Wand läuft. Dieses Problem hat der Büromöbelhersteller System 180 erkannt, der sich gemeinsam mit der Digitalagentur Exozet Gedanken darüber macht, wie ein Raum für die virtuelle Arbeit aussehen muss. Beispielsweise müssten unterschiedliche Bodenbeläge den Akteur haptisch darüber informieren, wo sein Aktionsradius endet. Vorhänge könnten ihn abschirmen, um seine Privatsphäre zu wahren, während er seine für mögliche Beobachter seltsam anmutenden Bewegungen ausführt.

Chancen und Risiken

Komplett ins Virtuelle wird die Büroarbeit vermutlich nicht wechseln – die erweiterte Realität hat hingegen durchaus Potenzial, sie zu verändern. Komplexe Daten und Zusammenhänge ließen sich im großen AR-Sichtfeld besser darstellen als auf Bildschirmen, 3-D-Konstruktionen einfacher durchführen und die ortsübergreifende Zusammenarbeit wäre realitätsnäher. Große Hoffnungen im Hinblick auf die Augmented Reality weckt derzeit die Brille Magic Leap One, die in diesem Jahr auf den Markt kommen soll. Deren Sensoren sollen Objekte im realen Raum erkennen und sie realitätsgetreu mit virtuellen Objekten ergänzen können. Ein virtueller Bildschirm ließe sich neben den echten stellen, eine virtuelle Blumenvase ins reale Regal.

Einen weiteren Vorteil hätten Head-Mounted Displays auf Geschäftsreisen. Eingehende Nachrichten könnten direkt im Sichtfeld angezeigt werden, eingeblendete Pfeile den Weg ans Ziel weisen. Intel hat dafür jüngst den Brillenprototypen Vaunt vorgestellt. Er sieht aus wie eine gewöhnliche Brille und verzichtet auf jede Art von Bildschirm, indem er Informationen mit einem Laser direkt aufs Auge projiziert.

Dieser Laser soll fürs Auge unschädlich sein. Doch inwieweit AR- und VR-Brillen generell problematisch für die Augen sind, wird noch erforscht. Ein mögliches Risiko wird darin gesehen, dass sich die Augen des Trägers über lange Zeit hinweg auf ein sehr nahes Objekt fokussieren müssen. Als Problem der Datenbrillen bekannt hingegen ist die VR-Krankheit, auch Motion Sickness genannt. Sie entsteht bei VR-Brillen, weil die vom Körper real empfundene Bewegung von der virtuell dargestellten Beschleunigung abweicht. Bei knapp zwei Dritteln aller Nutzer tritt dieses Phänomen auf, das sich in Schwindel und Übelkeit äußert. Sogar positiv für die Gesundheit könnte sein, dass die Arbeit mit Head-Mounted Displays von der starren Büroarbeit mit Tastatur, Maus und Bildschirm befreien könnte. Mit der virtuellen oder erweiterten Realität könnte mehr Bewegung in die Bürorealität kommen.