Der Skandal um das Flammschutzmittel DecaBDE in Newbuilt-Tonerkartuschen schlägt nach wie vor hohe Wellen. Wir haben Branchenexperten gefragt, wie sie zu der Problematik stehen.
Im dritten Quartal 2018 wurde im Magazin Digital Imaging erstmals über die verbotene Verwendung des Flammschutzmittels DecaBDE in Newbuilt-Kartuschen berichtet. Der TÜV Rheinland/LGA hatte zuvor zwei in Asien hergestellte Modelle untersucht und besorgniserregende Konzentrationen des Stoffes entdeckt. In Europa ist DecaBDE in Elektrogeräten seit 2008 verboten. Newbuilt-Kartuschen verfügen über einen Mikro-Chip und fallen deshalb in diese Kategorie.
Herstellung und Inverkehrbringen nun verboten
In der Folge ließ der europäische Remanufacturer-Dachverband ETIRA weitere Newbuilt-Kartuschen asiatischer Hersteller testen. Mit katastrophalen Ergebnissen: Acht der neun bis Dezember 2018 getesteten Modelle waren zum Teil erheblich mit dem gesundheitsgefährdenden Schadstoff belastet. Eine erste Konsequenz ist, dass zum 2. März 2019 die Herstellung und das Inverkehrbringen von DecaBDE in Europa per Gesetz verboten wurde.
OFFICE DEALZZ bat zahlreiche Hersteller und Händler von Druckern und Tonerkartuschen um Statements zur DecaBDE-Problematik. Wie brisant das Thema ist, zeigt, dass sich nur wenige der sonst recht auskunftsfreudigen Marktteilnehmer äußern wollten.
Alfred Wirch, Geschäftsführer, Peach Office Products.
„Der Skandal um DecaBDE-belastete Toner ist ein Skandal von neu produzierten Kartuschen aus China, den sogenannten Newbuilts. Wiederaufbereitete Toner europäischer Anbieter sind nicht davon betroffen. Das ist eine große Chance für die europäische Wiederaufbereitungsindustrie, die diese auch bitter nötig hat. Denn praktisch werden heute auf Amazon keine Alternativtoner oder Alternativtinten aus Europa mehr verkauft. Der Markt wird von chinesischen Unternehmen komplett beherrscht und das auf Kosten der Verbraucher und der Umwelt. Hier gilt es, sich die Dimensionen des Skandals noch einmal vor Augen zu führen: Wir reden von Hunderttausenden bis hin zu über eine Million belasteter Tonerkartuschen, die potenziell krebserregende Stoffe enthalten und eine starke Belastung für die Abfallkreisläufe sind. Zudem sind wir sehr bestürzt darüber, dass die Behörden bisher kaum reagiert haben und das, obwohl seit Ende letzten Jahres das Ausmaß des Skandals bekannt ist. Immerhin gab es erste Gespräche mit dem Umweltbundesamt. Jetzt ist die Marktaufsicht in den Bundesländern gefordert, Sanktionen gegen die Inverkehrbringer der belasteten Tonerkartuschen zu verhängen. Viel wichtiger wären aber Maßnahmen, die dort greifen, wo die Produkte eintreffen, also am Hafen oder in der Warenabfertigung am Flughafen. Die Tonerkartuschen aus China gehören konfisziert und an die Empfänger zurückgeschickt, bevor die chinesischen Anbieter nachweisen, dass ihre Angebote unbelastet sind.“
Vincent van Dijk, Generalsekretär, ETIRA.
„Die Ergebnisse sind sehr beunruhigend. Die Tests haben gezeigt, dass es sich nicht um isolierte Ausnahmefälle gehandelt hat. Stattdessen gibt es auf dem Gesamtmarkt ein großes systemisches Problem mit neugebauten Nicht-OEM-Kartuschen (Original Equipment Manufacturer, engl. Originalgerätehersteller) aus Asien, die extrem hohe Anteile an gefährlichen Chemikalien enthalten. Es ist ein sehr schwerwiegendes Problem, dass Tausende von neu gebauten Nicht-OEM-Kartuschen, die gegen EU-Gesundheits- und -Sicherheitsvorschriften verstoßen, jeden Tag in ganz Europa verkauft werden. Viele Lieferanten behaupten sogar, dass sie REACH- und/oder RoHS-konform sind, was sie natürlich nicht sind. ETIRA fordert erneut die EU und nationale Behörden, alle gefährlichen Kartuschen vom Markt zu nehmen. Kunden sollten sich zurückhalten und diese Produkte auf keinen Fall kaufen.“
Jan-Michael Sieg, Vorstandsvorsitzender, KMP AG.
„DecaBDE ist nur eins von vielen Problemen – oder besser gesagt: Gefahren, die NBCs mit sich bringen. Sie sind eben nur deshalb so günstig, weil sie billige und teilweise sogar verbotene Materialien, wie in diesem Fall DecaBDE-belasteten Kunststoff, enthalten. Es sind verantwortungslose Hersteller, die die Inhaltsstoffe ihrer Produkte nicht prüfen oder – schlimmer noch – wissentlich verunreinigte Kartuschen an Händler und letztendlich an deren Kunden weitergeben. Denn DecaBDE ist toxisch: Das Flammschutzmittel reichert sich im menschlichen Körper an und verändert eventuell sogar unser Erbgut. Wie wir wissen, haben DI – Digital Imaging und ETIRA Newbuilt-Kartuschen verschiedener Hersteller testen lassen. Die Ergebnisse legen nahe, dass seit vielen Jahren kontaminierte Kartuschen in der Umwelt entsorgt oder verbrannt werden und so gefährliche Substanzen freisetzen. Der Grund ist ganz klar reine Profitgier: Anstatt saubere Lösungen zu entwickeln (was technisch ohne weiteres möglich wäre), verwenden manche Hersteller zweifelhafte Inhaltsstoffe, weil sie ihren Kunden dadurch Billigware anbieten können. Diese verlassen sich natürlich darauf, dass das Produkt die rechtlichen Vorgaben erfüllt. Deswegen betonen wir immer wieder: Bei zu niedrigen Preisen müssen die Alarmglocken schrillen! In diesem Fall ist der Schaden natürlich schon passiert. Wir können unsere Kunden nur weiterhin aufklären und darauf vertrauen, dass auch die Behörden nach diesem eindringlichen Weckruf aktiv werden.“
Michael Reichhold, Leiter Paperworld, Messe Frankfurt GmbH.
„Die DecaBDE-Problematik ist uns bekannt, da Newbuilt-Kartuschen auch auf der Paperworld im Produktbereich Remanexpo gezeigt werden. Auf internationalen Messen müssen alle ausgestellten Produkte ausreichend gekennzeichnet sein, zum Beispiel, ob sie auf dem deutschen Markt überhaupt zugelassen sind. Dazu dient beispielsweise die CE-Zertifizierung. Produkte, die die CE-Zertifizierung nicht haben und darauf nicht hinweisen, können auf den Messen vom Zoll oder TÜV beschlagnahmt werden. Vorab informieren wir die Aussteller, die Kennzeichnungspflicht einzuhalten. Ob die Newbuilt-Kartuschen unter diese Kennzeichnungspflicht fallen, untersuchen wir. Derzeit prüft unsere Rechtsabteilung auch, wie generell mit ausgestellten Produkten mit schädlichen Inhaltsstoffen und deren Kennzeichnung umgegangen werden muss – wir nehmen dieses Problem ernst.“
Volker Kappius, Vorstand, Delacamp AG und Sprecher des DKWU.
„Das Netzwerk der Deutschen Kartuschen Wiederaufbereitungs-Unternehmen (DKWU) hat in Zusammenarbeit mit der ETIRA die DecaBDE-Problematik aufgedeckt. Die Kreislaufwirtschaftsindustrie der Sammlungs- und Wiederaufbereitungsunternehmen von leergedruckten Druckerkartuschen steht schon seit circa 2007 in einem ungleichen Wettbewerb mit den billigen Newbuilt-Kartuschen aus Fernost. Wäre es ein sportlicher Wettbewerb, würde man von Doping sprechen. Diese Mittel verhelfen den Newbuilt-Kartuschen zu einem unfairen Wettbewerbsvorteil: Missachtung von gesetzlichen Regelungen (MwSt. im Onlinehandel, REACH- und ROHS-Konformität, ElektroG), Missachtung von Themen im Gewerblichen Rechtsschutz (Patente, Gebrauchsmuster, Marken), direkte und indirekte Subventionen im Herstellungsland. Hinzu kommen Themen zur Umweltverträglichkeit, die bei Newbuilt-Kartuschen so gut wie keine Beachtung finden: Die Verwendung von Einwegplastik statt lokaler Wiederaufbereitung, die Missachtung von Toneremissionsrichtwerten (Schadstoffprüfung gemäß LGA, Blauer Engel und NEL), hohe Emissionen durch lange Transportwege, die Verwendung illegaler Substanzen (DecaBDE), keine End-of-Life-Strategie (EOL) für importierte Newbuilt-Kartuschen. Eigentlich sollte es die Händler, die Newbuilt-Kartuschen vertreiben, nicht wundern, dass diese jetzt so im Fokus stehen. Ein niedriger Preis hat eben auch immer seinen Preis. Das Problem dabei ist, dass der Preis für das Billigsein von anderen gezahlt werden muss.“
Dr. Hubert Ortner, Chefredakteur, DI – Digital Imaging.
„Ich finde es ungeheuerlich, dass chinesische Unternehmen systematisch deutsches und europäisches Recht brechen, zudem die Gesundheit von hunderttausenden Verbrauchern stark gefährden und fast unbehelligt davonkommen! Nichts gegen einen globalen Wettbewerb – dann aber bitte zu gleichen Bedingungen für alle. Es kann nicht sein, dass europäische Hersteller unter der Fülle an Vorschriften und Gesetzen fast kollabieren, während viele Unternehmen aus Fernost diese missachten, ohne dass harte Sanktionen folgen. Das ist eine Form von Wettbewerbsverzerrung, die es in einer Bananenrepublik geben mag – in der EU sollte sie ausgeschlossen sein. Sollte…
Es begann im Spätsommer 2018: Damals hat ein Remanufacturer mich angerufen, nachdem er auf eigene Faust zwei Tonerkartuschen von Static Control beim TÜV Rheinland hat testen lassen. Beide enthielten sehr hohe Konzentrationen des verbotenen Flammschutzmittels DecaBDE. Das hat natürlich unsere journalistische Neugier geweckt. Je tiefer wir recherchierten, desto schockierter waren wir über die Dimension des Skandals. Von den klaren Rechtsverstößen ganz zu schweigen …
Nach Veröffentlichung unseres ersten großen Berichts in der September-Ausgabe DI – Digital Imaging 5-2019 hat uns die Wucht der Reaktionen doch sehr überrascht: Das Thema wurde von zahlreichen Magazinen und Online-Portalen weltweit aufgegriffen – und hat auch sehr schnell Eingang in die Chefetagen der betroffenen chinesischen Anbieter gefunden. Auch die weiteren Artikel lösten viel Resonanz aus. Offensichtlich trifft das Thema den Nerv der Zeit.“