Der Beruf des Kaufmanns ist über die Jahre etwas in Verruf geraten, diagnostiziert Dr. Alexandra Hildebrandt. Die Publizistin erklärt die Entstehung des Begriffs und dessen heutige Bedeutung. Ein Diskurs über verantwortungsbewusste Händler.
Mehr denn je wird heute vom Leitbild des ehrbaren Kaufmanns gesprochen. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) möchte es wieder mit Leben füllen und setzt sich gegen unlauteren Wettbewerb und Korruption ebenso ein wie gegen Produkt- und Markenpiraterie. Die IHKs haben für Wahrung von Anstand und Sitte des ehrbaren Kaufmanns zu wirken, heißt es in § 1 Absatz 1 IHKG. Bereits im Jahr 1956 wurden die IHKs vom Gesetzgeber beauftragt, für „Anstand und Sitte des Ehrbaren Kaufmanns“ zu wirken. Die Inschrift an der Fassade des IHK-Gebäudes Nürnberg lautet:
„Der Handel begehrt solche Leut
Bei denen sei Aufrichtigkeit
In Wort und Werk das wohl vernimm
Auch Herz und Mund zusammenstimm.“
Auch die Versammlung eines Ehrbaren Kaufmanns zu Hamburg e.V. (VEEK) hat ein modernes Leitbild entworfen, das die drei Rollen eines Ehrbaren Kaufmanns herausarbeitet: der Ehrbare Kaufmann als Person, in seinem Unternehmen sowie in Wirtschaft und Gesellschaft. In dem 1517 gegründeten Verein verpflichten sich die Mitglieder, die Grundsätze der Hanse zu stützen, sich an geltende Gesetze zu halten und sich für das Gemeinwohl einzusetzen.
Die Entstehung eines Leitbilds
Das Leitbild geht auf das frühe Mittelalter zurück, als die europäische Wirtschaftsordnung von den Hansekaufleuten im Norden und den italienischen Kaufleuten im Süden neu definiert wurde. Für Handelsreisende war es schwierig, dass sie an jedem Ort Fremde waren und mit dem Vorurteil konfrontiert wurden, in betrügerischer Absicht zu handeln. Auch der Umstand, dass ein Stadtbewohner, der Ansprüche gegen einen Kaufmann hatte, diese bei jedem anderen Kaufmann befriedigen konnte, erschwerte das Leben der Kaufleute. Die mit dieser kollektiven Schuldnerhaftung einhergehenden Unsicherheiten führten dazu, dass sich Kaufleute in Gemeinschaften zusammenschlossen, um die Bedingungen des Wirtschaftens zu verbessern. Es entstand das Kaufmannsrecht von „Treu und Glauben“ – der Grundstein für die Entwicklung von Handelsreisenden hin zu ehrbaren Kaufmännern.
Verhaltensnormen in Kaufmannsgilden
Das Leitbild hatte die Aufgabe, das Verhalten der einzelnen Händler so zu kanalisieren, dass dies den Interessen der Kaufmannsgemeinschaft entsprach. Hierfür entwickelten sich unter dem Einfluss von Kaufmannsgilden spezielle Verhaltensnormen, die den Charakter von freiwilligen Selbstbindungen besaßen. Die Einhaltung der Verhaltensnormen wurde durch die Mitbürger kontrolliert. Ein Kaufmann konnte sich ehrbar nennen und von diesem guten Ruf profitieren, wenn er im Einklang mit den Normen agierte. Verstieß er dagegen, musste er mit gesellschaftlicher Missbilligung rechnen und wurde im schlimmsten Fall aus der Gemeinschaft verstoßen. Tugenden wie Integrität, Aufrichtigkeit, Integrität, Fairness Anstand ließen den Kaufmann ehrbar werden. Er zeichnete sich dadurch aus, dass sein Wort jederzeit Gültigkeit besaß. Durch Betrug oder Täuschung verlor er seinen guten Ruf und das Vertrauen der Kunden. Ehre und wirtschaftlicher Erfolg waren eng verbunden.
Der wahre und ehrliche Kaufmann
Schriftlich erscheint der „wahre und ehrliche Kaufmann“ erstmals um das Jahr 1340 in Kaufmannshandbüchern im mittelalterlichen Italien. Gesellschaftliches Ansehen könne er nur dann erwerben, wenn er immer gerecht handle, große Weitsicht besitze und seine Versprechen einhalte. Auch in der Hanse gaben sich Kaufleute gemeinsame Werte zu einer Zeit, in der eine staatliche Ordnung weitgehend fehlte. Den eigentlichen Begriff des „Ehrbaren Kaufmanns“ prägte der Lübecker Kaufmann und Bürgermeister Hinrich Castorp (1420–1488).
Solide Zeiten anstatt Stress und Hektik
Wer das Leitbild des Ehrbaren Kaufmanns heute verstehen will, braucht nur einen Blick in Stefan Zweigs jüdische Familiengeschichte „Die Welt von Gestern“ (1942 posthum veröffentlicht) zu werfen: Während sein Großvater als typischer Vertreter seiner Epoche nur dem Zwischenhandel mit Fertigprodukten gedient hat, trat sein Vater entschlossen und mutig in die neue Zeit: In Nordböhmen gründete er mit 33 Jahren eine kleine Weberei, die er dann langsam und mit Bedacht zu einem erfolgreichen Unternehmen ausbaute. Zweig nennt das nachhaltige Wirtschaften, von dem heute vielfach gesprochen wird, eine „vorsichtige Art der Erweiterung trotz einer verlockend günstigen Konjunktur“. Das entsprach der „ungierigen Natur“ seines Vaters. Ein Lieblingswort jener Zeit war solide.
Der Einzelne im Schutz der Gemeinsamkeit
Der Theologe Hartwig von Schubert stellte im Jahr 2009 – während der Wirtschafts- und Finanzkrise, die heftige Debatten über die Regulierung der Märkte auslöste – die Frage: „Wie aber kann einer allein anständig handeln, wenn alle anderen sich noch gehen lassen?“ Seine damalige Antwort ist noch immer gültig. Der Einzelne kann nur anständig handeln, wenn möglichst viele Menschen gemeinsam „am Bau wahrer politischer Freiheit mitarbeiten, wenn es soziale Absicherungen gibt, die ihn nicht ins Bodenlose fallen lassen, wenn sich Richter finden, die sein Recht bestätigen.“ Ein Ehrbarer Kaufmann wird lieber auf den Erfolg verzichten als seine Seele und seine Ehre zu verlieren.
Gemeinwohl statt Gewinnmaximierung
2008 veröffentlichte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland die Unternehmer-Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“, die von „Ehrbaren Kaufmännern“ und „kundigen Kunden“ verlangt, für eine Moralisierung der Märkte einzutreten. Damit ist eine Wirtschafsweise gemeint, die nicht nur auf Eigennutzen und rücksichtslose Gewinnmaximierung setzt, sondern auch auf das Gemeinwohl.
Dr. Alexandra Hildebrandt, Publizistin, Wirtschaftspsychologin und Nachhaltigkeitsexpertin.
Twitter: @AHildebrandt70 Foto: Nicole Simon |