In Wirtschaft und Handel muss ein Klimawandel eintreten, fordert Dr. Alexandra Hildebrandt. Die Publizistin präsentiert ein theoretisches Fundament als Ausgangspunkt für eine solche Veränderung.
Dringlichkeit ist etwas anderes als „wichtig“. Sie zeigt sich dann, „wenn in einer sozialen Gruppe die gefühlte Erkenntnis herrscht: Wir müssen sofort gemeinsam handeln“, schreiben Niels Pfläging und Silke Hermann in ihrem Buch „Komplexithoden“, in dem sie sich auch den beiden Seiten der Dringlichkeit widmen: Hirn und Herz. Dringlichkeit ist freiwillig und fußt auf den drei Säulen Verstehen, Hoffnung und Identifikation. An ihr lässt sich arbeiten, indem die Temperatur der Dringlichkeit erhöht und damit „Veränderungsenergie“ nach vorn gerichtet werden kann. Die Businessvordenker verweisen darauf, dass sich ab einer bestimmten Temperatur die Dinge fügen – dann wird nicht mehr nur geredet, sondern es entsteht die Bereitschaft, handfeste Beiträge zu leisten: Veränderung kommt in die Gänge.
Die blinden Flecken in der Beobachtung der Welt
Der Begriff Dringlichkeit spielt auch eine wichtige Rolle im aktuellen Buch von Benedikt Herles: In „Zukunftsblind“ kritisiert der Autor und Start-up-Investor, dass der Wählerschaft von heute das Gefühl der Dringlichkeit fehlt, „weil sie die Schlagkraft des Wandels unterschätzt. Die Politik versucht sich derweil durchzumogeln und nimmt dafür gewaltige gesellschaftliche Verwerfungen in Kauf.“ Bereits im Dezember 2011 trafen sich zehn deutsche Publizisten und Intellektuelle, um der politischen Praxis die Frage zu stellen: „Ist das noch Demokratie, was hier passiert oder hat sich unser politisches System längst dem Gesetz des Marktes überantwortet?“ Franziska Augstein, Friedrich von Borries, Carolin Emcke, Julia Encke, Romuald Karmakar, Nils Minkmar, Ingo Schulze, Joseph Vogl, Harald Welzer und Roger Willemsen formulierten einen dringlichen (!) Aufruf, sich wieder verantwortlich zu fühlen für das, was Gesellschaft heute ausmachen sollte.
Nutzt eure Möglichkeiten!
Um die Grundprobleme unserer Zeit zu erkennen und zu lösen, braucht es ein Denken, das die Praxis nicht vernachlässigt. Genauso wichtig ist es, zukünftige Handlungen und Einstellungen zu berücksichtigen. „Als brauchten wir zum Handeln einen neuen Klimabericht, einen neuen Schadensbericht über die Weltmeere, den Regenwald, die grassierende Armut. Aber aus all den Fakten ist keine Praxis entsprungen, die auf der Höhe der drohenden Zukunft wäre“, schreibt er in seiner Zukunftsrede.
Insa Wilke ist auch Willemsens Nachlassverwalterin. Sie hat sein postum erschienenes Buch „Wer wir waren“ herausgegeben, das seine Zukunftsrede enthält. Es basiert auf einem zweimal gehaltenen Vortrag, aus dem ein Buch entstehen sollte, als der Autor noch nichts von seiner Krankheit wusste: Willemsen blickt aus der Zukunft auf die Gegenwart, weil sie ihm ermöglicht hat, diese schärfer zu sehen: „Wenn man es genau bedenkt, ist vom Anfang aller Tage alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, der Zusammenhalt unter den Menschen, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten.“ Beschrieben werden die Bedingungen, unter denen sich unser Bewusstsein verändert.
Konsequenzen aus dem Handeln ziehen
Dazu gehört der technische Fortschritt, die Veränderung unserer Aufmerksamkeit, die Instabilität und Flüchtigkeit. Willemsen fragt, wie es möglich sein kann, dass wir heute (wo alle Ressourcen und auch die Zukunft knapp werden) alles vor uns auf dem Tisch liegen haben, aber daraus keine Konsequenzen für unser Handeln gezogen werden. Wir sind „jene die wussten, aber nicht verstanden. Voller Informationen, aber ohne Erkenntnis. Randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir von uns selbst nicht aufgehalten.“ Er befürchtet (im durchgängigen Futur II), dass wir das Menschsein wohl aufgegeben haben werden und uns künftig „weniger mitfühlend, weniger solidarisch, weniger sentimental“ verhalten. Der Wesentlichkeit, die sich bekanntlich langsam vollzieht, setzen wir die schnelle Selbstoptimierung entgegen.
Vermächtnis an folgende Generationen
„Nutzt eure Möglichkeiten.“ Das ist sein Vermächtnis an die nächste Generation und sein Plädoyer für Mitmenschlichkeit. Es macht Sinn, diesem schmalen Band noch ein weiteres Werk an die Seite zu stellen. Es ist die kurze Geschichte der Gegenwart von Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. „21.0“ ist ein Crashkurs durch unsere Geschichte, der Mechanismen der Wahrnehmung und des Denkens. Und auch dies erinnert an Roger Willemsen: „Wir wissen so viel wie nie zuvor – und verstehen die Welt dennoch nicht.“ Es ist ein hoffnungsvolles Buch – trotzdem. Denn es nimmt dem Leser die Angst vor der Zukunft: Alles kann auch ganz anders werden als gedacht. Wer sich das immer wieder bewusst macht, ist auch fähig, die Chancen des Unvorhergesehenen zu nutzen.
Weiterführende Informationen:
Alexandra Hildebrandt (Hg.): „Klimawandel in der Wirtschaft. Warum wir ein Bewusstsein für Dringlichkeit brauchen“, SpringerGabler Verlag, 2020.
Alexandra Hildebrandt/Werner Neumüller (Hg.): „Visionäre von heute – Gestalter von morgen. Inspirationen und Impulse für Unternehmer“, SpringerGabler Verlag, 2018.
Dr. Alexandra Hildebrandt, Publizistin, Wirtschaftspsychologin und Nachhaltigkeitsexpertin.
Twitter: @AHildebrandt70 Foto: Nicole Simon |