Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Corona-Krise lassen sich nur schwer abschätzen. Sandra Jung, Geschäftsführerin bei Büro Jung in Mainz, hat sich mit den Herausforderungen, Folgen und Chancen der aktuellen Situation auseinandergesetzt. Ein Kommentar.
In unserer aller Leben gibt es Momente, in denen die Zukunft unerwartet die Richtung ändert. An einem solchen Scheidepunkt sind wir nun angekommen. Und plötzlich kommen Fragen auf: „Wie werden wir in Zukunft leben und arbeiten?“ oder „Wie können wir diese Krise nutzen, um unser Handeln mit neuen Werten zu belegen?“
Erste Antworten auf wichtige Fragen
Der momentane soziale Verzicht wird uns diese Fragen beantworten und Wege aufzeigen, wie wir in Zukunft wohnen und arbeiten werden. Mehr denn je werden beispielsweise Gewerbe- und Büroflächen optimiert werden müssen. Dabei wird uns das BIM (Building Information Modeling; deutsch: Bauwerksdatenmodellierung) helfen. Denn BIM ist das Schlagwort unserer Zeit für moderne und effektive Bauherren. Durch die Krise haben wir zudem gelernt, unsere Familien, Freunde, Bekannten und Arbeitskollegen noch mehr zu schätzen. Eine weitere Folge der Krise ist unser Verlangen nach neuen Arbeitswelten und Rahmenbedingungen. Jetzt haben wir in der Tat die Möglichkeit, die Not zur Tugend zu machen: Coworking und Coliving werden sich dauerhaft etablieren, bestehende Arbeitswelten werden neu gestaltet und damit effektiver und optimierter als zuvor. Agiles Arbeiten und generelle Agilität werden momentan ganz von selbst gelernt und zu einem festen Bestandteil unseres Alltags werden.
KMUs werden wahrscheinlich nicht die Zeit und Kapazität haben, diese neuen Arbeitsmodelle auszuprobieren. Aber gerade diese Unternehmen brauchen unsere volle Unterstützung, denn sie sichern sehr viele Arbeitsplätze, heute und in Zukunft. Diese Unternehmen sind Helden, denn sie kämpfen jeden Tag ums Überleben. Auch aus diesem Grund eröffnet Büro Jung in diesem Jahr seinen „KreativRaum“. Jeder soll testen können, wie moderne Arbeitswelten auf das eigene Unternehmen zugeschnitten werden können. Einfach kurz, eventuell für einen Tag, das Team für einen Workshop, eine Veranstaltung oder ein Seminar einmieten und das neue Arbeiten fühlen. Die Atmosphäre muss für jeden Mitarbeiter fühlbar sein, um für die neue und andere Welt zu sensibilisieren. Fest steht: Wir werden uns umstellen müssen und uns dabei die Frage stellen, wie die neue Welt des Wohnens und des Arbeitens aussieht.
Problemen vorausschauend begegnen
Die eigentliche Problematik wird aber tiefgreifender sein: Wie wird es dem einzelnen Menschen ergehen? Wir hören bereits heute, dass häusliche Gewalt, psychischer Druck, Depressionen etc. im Zuge des verordneten Home-Office deutlich zunehmen. Diesen Problemen müssen wir vorausschauend begegnen. Auf die nach der Pandemie entstehenden neuen Arbeitssituationen sollten die Mitarbeiter vorbereitet werden. Das System der bestehenden Arbeitsplätze und die neuen Arbeitswelten müssen zusammengebracht werden: Wir werden nach der Pandemie das Laufen neu lernen müssen. Ein schleichender Prozess wird stattfinden, der sich bereits heute in den oben genannten Problematiken widerspiegelt. Derzeit bereiten wir bei uns im Hause Seminare vor, die KMUs den Umgang mit den auftretenden Problematiken nach der Krise zeigen.
Probleme aller Art im Home-Office
Wir alle wissen, dass die Arbeitsstättenrichtlinie (ASR) auch für den Home-Office-Bereich ihre Gültigkeit hat. Und trotzdem wird aktuell aus einem Küchentisch ein Arbeitsplatz. Ein anderes Beispiel ist der Laptop, der jetzt zum ständigen Arbeits- und Kommunikationsmittel geworden ist. Doch wie steht es um den Viren- und Datenschutz? Unzählige Laptops sind bereits gehackt worden – ein DSGVO-konformer Arbeitsplatz ist nur noch Geschichte. Viele Mitarbeiter, die plötzlich ins Home-Office ausweichen mussten, klagen bereits über massive Rückenprobleme sowie psychische Belastungsstörungen – sie sind offenbar dem entstandenen Druck und der Destrukturierung ihres bisherigen Lebens nicht gewachsen.
Alles scheint gerade so easy und leicht
Wenn das Arbeiten im Home-Office allerdings dazu genutzt wird, um Filme auf Netflix oder Amazon zu schauen – und ab und an mal was für die Firma getan wird –, dann fragt man sich, wie Agilität und Eigenverantwortung in Zukunft funktionieren sollen. Unsere Kinder lernen gerade von zu Hause aus, Homeschooling ist das neue Schlagwort. Dabei sehen sie gleichzeitig, wie ihre Eltern versuchen, mit der Situation umzugehen. Tränen fließen und Angst entsteht. Was bleibt also in unseren Köpfen als Folge der jetzigen Situation überhaupt hängen? Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.
Was wir alles vermissen
Bisher sind die finanziellen, wirtschaftlichen und medizinischen Schäden noch nicht absehbar. Wahrscheinlich werden Firmen verschwinden. Es bleibt zu hoffen, dass wir uns wieder auf den lokalen Handel besinnen. Schließlich vermissen wir die sozialen Kontakte, die wir bei einem Stadtbummel gerne erlebt haben. Der Italiener um die Ecke ist auch wieder wichtiger als der Lieferdienst XY. Dort findet Kommunikation in Kombination mit sozialen und psychologischen Kontakten statt. Man sieht sich, man trifft sich, man unterhält sich. Eben all das, wozu wir im Moment nicht in der Lage sind. Wenn inhabergeführte Unternehmen verloren gehen, dann verlieren wir komplett den Bezug zur Realität, und vor allem verlieren unzählige Menschen ihre Jobs. Dies wiederum hat Auswirkungen auf die Kaufkraft in einer Stadt, weiß ich als Geschäftsführerin eines Familienunternehmens in dritter Generation. Wenn es uns morgen nicht mehr gibt, verlieren 17 Menschen ihren Arbeitsplatz.
Die erstarkte Solidargemeinschaft
Zurzeit sehen wir uns alle als Teil einer großen, selten so stark empfundenen Solidargemeinschaft. Wir alle zelebrieren das Wir-Gefühl – die sogenannten systemrelevanten Berufe, die Ärzte, Krankenschwestern und -pfleger, Altenpfleger in privaten Diensten, Polizisten, Rettungskräfte sowie Kassierer und Verkäufer, werden zurecht für ihre Arbeit gelobt und gefeiert. Aber wenn wir die rosarote Brille dieses solidarischen Empfindens und Denkens ablegen, fragen wir uns, wie lange dieser Hype anhalten wird. Wird sich für die genannten Berufsgruppen in Zukunft etwas ändern? Werden sie ihrer Leistung gerecht entlohnt? Diese Frage kann nur jeder für sich selbst beantworten, mit seiner eigenen Glaskugel.
Was wir in Zukunft brauchen werden
Es wird Aufgabe der bundespolitischen Führung sein, hier ein Ausrufezeichen zu setzen. Wir alle streben nach einer neuen, heilen Welt und suchen geradezu die Herausforderung, diese zu erreichen. Im Zuge dessen sollten wir jetzt lernen, was wir in Zukunft brauchen, um unser komplettes System und den Motor wieder in Gang zu bringen und am Laufen zu erhalten. Bereits jetzt wünschen sich die „Homies“ (Mitarbeiter im Home-Office), hier insbesondere die Generation Z, verstärkt die Rückkehr zur Normalität, zum Gewohnten und ins Büro. Die Kollegen und der Austausch untereinander werden mehr denn je geschätzt und vermisst.
Faktische Zukunft oder nur Vision?
Hieß es bisher, dass das Büro dort ist, wo man online gehen kann, so lernen wir nun das Miteinander in optimierten Büroraumflächen verstärkt zu schätzen. Doch wird das auch Auswirkungen auf unser System haben? Die Kunst wird sein, Büroflächen und Wohnräume entsprechend auszustatten und zu gestalten. Wir alle brauchen eine Struktur, die uns durch unser tägliches Leben leitet. Es wird zu unseren Aufgaben gehören, unseren Kindern eine Struktur mit Sicherheit und Regeln nach der Krise zu schaffen.
Neue Perspektiven nach der Krise
Nach der Krise werden sich neue Wege auftun und neue Berufe werden entstehen. Wir können uns sicher sein, dass es wieder mehr inhabergeführte kleine und mittlere Unternehmen geben wird. Aber wir sollten unsere Gelder mit Bedacht und Weitsicht verteilen, damit wir das Ganze, das Ziel nicht aus dem Auge verlieren. Seien wir gespannt, wie sich die Zukunft entwickeln wird und hoffen wir alle, dass wir in die gleiche Richtung denken und fühlen werden – dass Deutschland aus dieser Krise stärker hervorgeht; inklusive des starken und solidarischen Wir-Gefühls.